Fraunhofer-Forschende haben ein neuartiges Verfahren für die Eingangsprüfung von Blechen in der Fertigung entwickelt. Dabei werden bewährte Belastungstests mit einer KI-Software kombiniert. Die Software erstellt noch vor dem ersten Bearbeitungsschritt eine Prognose über das Verhalten des Werkstoffs während der Fertigung und beurteilt, ob er den Qualitätsanforderungen genügt. Das Risiko von Pannen und der Ausschuss sinken deutlich.
Der Werkstoff Blech wird heute in nahezu allen Industriebranchen verwendet. In der Automobil- oder Elektroindustrie, im Maschinen-und Anlagenbau, in der Möbelherstellung und in der Verpackungsindustrie – überall kommt Blech zum Einsatz. Dabei steht eine enorme Vielfalt an Legierungen, Dicken, Beschichtungen und Farben zur Verfügung. Nach Angaben des Industrieverbands Blechumformung lag das Umsatzvolumen der Branche allein im Jahr 2019 bei rund 20,5 Milliarden Euro.
Die Bleche werden zumeist in großen Rollen, sogenannten Coils, oder
in Tafeln angeliefert. Auf dem Weg zum Endprodukt in der Fertigung wird
das Material in verschiedenen Fertigungsschritten bearbeitet. Es wird
beschnitten, gebogen, gestaucht, gezogen oder geprägt. Voraussetzung für
die problemlose Weiterverarbeitung in der Fertigung ist daher eine
Qualitätskontrolle, die gewährleistet, dass der Werkstoff allen
geforderten Spezifikationen genügt.
Um das zu ermöglichen, hat das Fraunhofer-Institut für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik IWU jetzt eine Lösung vorgestellt: den »Werkstofftester«. Damit lassen sich die Bleche vor dem ersten Bearbeitungsschritt schnell und unkompliziert prüfen. Die Forschenden haben bewährte mechanische Belastungstests weiterentwickelt und mit einer Machine-Learning-Software kombiniert. Diese erstellt eine differenzierte Prognose über das Verhalten des jeweiligen Materials bei allen Bearbeitungsschritten in der nachfolgenden Fertigung.
So funktioniert die Materialprüfung
Zunächst wird ein kleiner Teil des Blechs abgeschnitten und in eine
Prüfmaschine gelegt. Hier drückt ein Stempel, der wie eine Halbkugel
geformt ist – er kann je nach geplanter Anwendung auch eine andere Form
haben – das Blech bis zu einer vordefinierten Tiefe ein. Ein Kraftsensor
misst den Kraft-Weg-Verlauf. Er registriert also, wie viel Kraft nötig
ist, um den Werkstoff bis zu einem bestimmten Punkt zu verformen.
»Aus diesen Messergebnissen zieht die Analyse-Software Rückschlüsse über
das Verformungsverhalten unter Druck und beurteilt die Tauglichkeit des
Blechs für den geplanten Fertigungsprozess«, erklärt Matthias Riemer,
Projektleiter am Fraunhofer IWU.
Machine-Learning-Algorithmen steuern Prognose-Ampel
Damit die Software eine tragfähige Prognose erstellen kann, wird bei
neuen Blechsorten zunächst eine Vielzahl von einzelnen Proben in der
Prüfmaschine verformt. Die daraus generierten Messwerte des
Kraft-Weg-Verlaufs dienen als Trainingsdaten für die
Machine-Learning-Algorithmen. So entsteht ein Verhaltensprofil des
Blechtyps als Referenz. Beim Test einer Blechrolle aus einer anderen
Charge des gleichen Materials gleichen die ML-Algorithmen deren
Messwerte mit dem vorhandenen Profil ab und visualisieren das Ergebnis
in einer Kurvengrafik.
Die Mitarbeitenden in der Fertigung erhalten eine differenzierte
Aussage zur Belastbarkeit und zum Verhalten des Materials. Mit
technischen Details müssen sie sich dabei nicht befassen. Ein
Ampelsymbol in der Werkstofftester-Software gibt Auskunft, ob das Blech
»in Ordnung«, »grenzwertig« oder gar »Ausschuss« ist. Sollte die Analyse
ergeben, dass das gelieferte Blech nicht den vereinbarten
Spezifikationen entspricht, kann das Unternehmen weitere Tests an der
Ware durchführen und dann unter Umständen sogar an den Lieferanten
zurückgeben oder auch den Fertigungsprozess anpassen.
Die Software für dieses Projekt wurde von den Expertinnen und
Experten am Fraunhofer IWU selbst programmiert. Sie funktioniert mit den
gängigen Steuerrechnern der Prüfanlagen in den Fabriken. Der gesamte
Prüfvorgang ist bereits nach 15 Sekunden abgeschlossen.
Werkstofftests nach langer Lagerzeit
Der Werkstofftester aus dem Fraunhofer IWU stellt eine Abkehr von
bisherigen Prüfkonzepten dar, bei denen das Blech nach dem
Belastungstest optisch auf Risse oder Defekte untersucht wurde. »Wir
betrachten nicht das Material, sondern untersuchen die Messergebnisse
mithilfe von ML-Algorithmen. Diese Prognose ist zuverlässiger und
differenzierter als ein herkömmlicher Belastungstest«, sagt Riemer. Die
Tests sind beispielweise auch dann sinnvoll, wenn die angelieferten
Coils für längere Zeit bei wechselnden Temperaturen oder im Sommer lange
in einer nicht klimatisierten Halle gelagert wurden. Dabei können
Alterungserscheinungen im Material auftreten, etwa bei bestimmten
Aluminiumlegierungen.
Matthias Riemer ist besonders wichtig, dass die Materialprüfung vor
dem ersten Bearbeitungsschritt stattfindet: »Manche Hersteller
verzichten auf Eingangstests und verlassen sich ganz auf die
Spezifikationen, die mit dem Lieferanten vereinbart wurden. Das kann
riskant sein.«
Präsentation auf der Hannover Messe
Der Werkstofftester lässt sich entweder als Stand-alone-Variante bei
der Eingangsprüfung im Warenlager aufstellen oder als Inline-Variante
direkt an den Anfang der Fertigungsstraße setzen. Das System ist zu
bestehenden Prüfmaschinen kompatibel. Es muss keine neue Testanlage
angeschafft werden.
Das IWU-Team wird den Werkstofftester auf der Hannover Messe präsentieren. Die Veranstaltung findet vom 12.4.-16.4. im virtuellen Raum statt.
-> Zur News des Fraunhofer IWU.
Bild ©Fraunhofer IWU: In der Prüfmaschine drückt ein halbkugelförmiger Stempel das Werkstück bis zu einer definierten Tiefe ein. Die Analyse des Kraft-Weg-Verlaufs erlaubt detaillierte Rückschlüsse auf die Qualität des Materials.